Wie hoch ist Ihre Mauer?
Die Frage meine ich ganz ernst. Nahezu jeder Mensch hat sie, kaum ein Mensch sieht sie. Ich spreche von der Mauer, die Sie um sich selbst herum errichtet haben. Die Sie permanent – und häufig ganz ohne es zu merken – weiter in die Höhe ziehen. Die Wand des „Ich komme schon klar“, die Wand des „Ich brauche euch nicht“ und die Wand dahinter „Ich muss das alleine schaffen, weil …“.
Was ist der heutigen Gesellschaft nur verloren gegangen, dass Menschen diesen Schutzwall um sich herum für nötig erachten?
Die Mauer um Achilles
Häufig bedeutet diese Abschottung nichts weiter als: „Schaut her, ich bin unverwundbar.“ Sie ist der Beweis für mangelndes Vertrauen – vor allem in die Menschen um einen herum. Das habe ich erst neulich bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten wieder bestätigt gesehen. Als ich Freunde besuchte, die dort leben, unterhielten wir uns über die Unterschiede im Miteinander zwischen der amerikanischen und der deutschen Gesellschaft. „Weißt du“, meinte mein Freund, „praktisch jeder Amerikaner hat einen Psychiater. Weil er dem erzählt, was die Deutschen ihren Freunden erzählen.“
Schon waren wir auf dem Grund des Phänomens angekommen: Je weniger Vertrauen in einer Gesellschaft vorhanden ist und gelebt wird, desto höhere Mauern bauen die Menschen um sich selbst herum. Denn desto mehr haben sie das Gefühl: Ich muss es alleine schaffen.
Die Lektion aus der Angst
Nun ist es sicher übertrieben, dass jeder Amerikaner einen Psychiater hat, genauso wie sicher nicht jeder in Deutschland Freunde hat, um über sehr persönliche Dinge zu reden. Und ich möchte keineswegs pauschal „die US-Amerikaner“ kritisieren für ihr geringes Vertrauen in andere. Im Gegenteil. Viele Amerikaner beherrschen gerade aufgrund ihrer stark individualistischen Gesellschaft eine andere Form des Vertrauens ganz hervorragend: das Selbstvertrauen.
Während Deutschland bis heute (auch) stark kollektivistisch geprägt ist und aus einer rauen und angstbesetzten Kriegsvergangenheit gelernt hat, dass die Menschen aufeinander angewiesen sind, vertrauen die Amerikaner mehrheitlich auf sich selbst. Auf ihre Stärken und Kompetenzen. Keine der beiden Formen von Vertrauen möchte ich kritisieren, noch werden Sie hier lesen, dass ich eine über die andere herausstelle. Ich glaube vielmehr: Eine gesunde Gesellschaft braucht beides – das Vertrauen in andere und das Vertrauen jedes Individuums in sich selbst.
Mit Vertrauen in die Entwicklung
Würden wir Vertrauen in der heutigen Gesellschaft wieder als echten Wert etablieren und leben, könnten wir als Individuen endlich aufhören, schützende Mauern um uns herum hochzuziehen. Die Menschen könnten dank ihres Selbstvertrauens selbstbewusst mit Herausforderungen umgehen. Gleichzeitig wäre durch ein gegenseitiges Vertrauen der Grundstein für gelungene Dialoge gelegt.
Denn wenn Sie auf sich vertrauen, können Sie anderen vertrauen. Ohne Mauer. Dafür mit viel Offenheit.